„Geldpolitik im Umbruch“ von Aaron Sahr
1. Einleitung und Grundannahmen der Geldpolitik
Aaron Sahr eröffnet seine Analyse mit einem Rückblick auf die Inflationswelle in der Eurozone ab dem Jahr 2022. Diese ökonomische Herausforderung veranlasste eine breitere gesellschaftliche und politische Diskussion über die Rolle der Geldpolitik. Er betont, dass traditionelle Vorstellungen, wonach eine direkte Korrelation zwischen Geldmenge und Inflation besteht, überholt seien. Die geldpolitische Steuerung erfolge heute primär über Zinsentscheidungen der Zentralbanken, wobei hohe Zinsen als Bremse und niedrige Zinsen als Anreiz wirken sollen. Besonders in Deutschland sei die Erinnerung an die Hyperinflation von 1923 tief verankert, was zu einer besonders sensiblen Reaktion gegenüber Preissteigerungen führt.
2. Die Sprache und Struktur des Geldsystems
Die Komplexität des modernen Geldsystems wird in einem eigenen Abschnitt beleuchtet. Fachbegriffe, Derivate und abstrakte Finanzinstrumente tragen dazu bei, dass ein großer Teil der Bevölkerung von der tatsächlichen Funktionsweise der Geldpolitik entfremdet bleibt. Sahr verweist auf die Grundstruktur des heutigen Bankensystems, das im Kern auf wechselseitigen Schuldenversprechen basiert – auch Bankguthaben sind rechtlich gesehen bloß Forderungen an Geschäftsbanken.
3. Historisches Trauma: Die Hyperinflation von 1923
Ein zentrales Kapitel widmet sich der deutschen Erinnerung an die Hyperinflation. Diese wird nicht nur als wirtschaftliches, sondern auch als kulturelles Trauma verstanden, das über Bildungseinrichtungen und Medien tradiert wird. Dabei betont Sahr, dass die Hyperinflation selbst für breite Bevölkerungsschichten – insbesondere Arbeiter mit häufigen Lohnanpassungen – weniger dramatisch war als für Beamte oder Lehrer. Die Erinnerung sei verzerrt: Viele verorten sie fälschlicherweise ins Jahr 1929 statt 1923. Politisch lässt sich ein direkter Zusammenhang zwischen Hyperinflation und dem Aufstieg des Nationalsozialismus nicht eindeutig belegen.
4. Die politische Natur des Geldes
Sahr stellt die gängige Sichtweise infrage, Geld sei ein neutrales Tauschmittel. Er verweist auf die Kredittheorie, nach der Handel schon immer auf Schulden und Leistungsversprechen basierte – nicht auf direktem Tausch. Zentralbanken, wie die im 17. Jahrhundert gegründete Bank of England, erhielten das Monopol zur Geldschöpfung und konnten durch staatliche Akzeptanz (z. B. zur Steuerzahlung) Papiergeld etablieren. Die Geldschöpfung durch Geschäftsbanken wird hingegen weitgehend unkontrolliert zugelassen.
5. Demokratische Defizite und institutionelle Logiken
Trotz der enormen Bedeutung von Geldpolitik sei diese demokratisch nur schwach legitimiert. Die Zentralbanken gelten als „lender of last resort“ und besitzen mit ihrer Fähigkeit zur quasi unbegrenzten Geldschöpfung eine enorme Machtfülle. Auch der deutsche Fiskalgrundsatz – Staatsfinanzierung primär durch Steuern – wird dabei zur Diskussion gestellt. Die EZB sucht zunehmend den Schulterschluss mit politischen Akteuren, um geldpolitische Maßnahmen besser vermitteln zu können.
6. Eurozonen-Konflikte und monetäre Narrative
Die Vorstellung, dass sich die Eurozone in Hart- und Weichwährungsländer aufteilen ließe, wird von Sahr als analytisch unzureichend zurückgewiesen. Vielmehr ähnele die Eurozone strukturell einem Nationalstaat mit innerregionalen Spannungen – vergleichbar etwa mit dem wirtschaftlichen Nord-Süd-Gefälle innerhalb Italiens. Deutschland und Frankreich etwa entziehen sich der typologischen Einordnung. Die EZB agiert zunehmend wie eine politische Institution, die Macht in der öffentlichen Kommunikation sucht.
7. Soziologische Perspektiven: Verteilungskämpfe
Sahr betont die soziologische Dimension der Geldpolitik: Inflation und Löhne stehen in einem dialektischen Verhältnis, bei dem Gewerkschaften durch Lohnforderungen Preissteigerungen antizipieren – und letztlich mitverursachen. Der Hinweis auf Max Weber zeigt, dass ökonomische Entwicklungen stets auch Macht- und Verteilungskonflikte widerspiegeln.
8. Der geopolitische Kontext: Dollar, Öl und Krieg
Ein umfassendes Kapitel widmet sich dem Verfall des Dollar-Standards und den geopolitischen Verschiebungen. Das Ende des Bretton-Woods-Systems 1971 bedeutete das Ende des Goldstandards. Die Dominanz des Dollars stützte sich fortan auf den Handel mit Öl („Dollar-Öl-Standard“) und militärische Macht. Sanktionen gegen Russland im Jahr 2022 illustrieren die politische Instrumentalisierung von Geldflüssen. Fiatgeld – also ungedecktes Geld – ist besonders krisenanfällig, wenn das Vertrauen schwindet.
9. Kryptowährungen und Alternativen
Obgleich Kryptowährungen wie Bitcoin oft als emanzipatorische Alternativen dargestellt werden, sieht Sahr diese eher skeptisch. Die Mehrheit der Nutzer ist weiterhin auf zentralisierte Plattformen angewiesen und erleidet häufig Verluste. Die klassische liberale Vorstellung eines unregulierten Marktes – etwa bei Adam Smith – wird fehlinterpretiert, da Smith gerade auf die Notwendigkeit klarer Regeln verwies.
10. Fazit: Geldpolitik im Spannungsfeld von Vertrauen, Politik und Gesellschaft
Sahr schließt mit dem Hinweis, dass Vertrauen in Geldpolitik essenziell sei, Verständnis hingegen zweitrangig – wie schon Roosevelt sagte. Geldpolitik sei kein rein technischer Bereich, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Die Debatte über Inflation, Zentralbankpolitik und Alternativwährungen berührt fundamentale Fragen des Staates, der Demokratie und der Verteilungsgerechtigkeit.
Das Buch umfasst 264 Seiten und kann bei der BPB für 5,00 Euro bezogen werden.